Diese Frage stellt mir meine Mutter während meines etwa zweistündigen Besuchs bei ihr im Heim immer wieder, und nicht nur heute, sondern schon seit ein paar Monaten. Meine realistischen Erklärungen, u. a., dass ihre Mutter ein biblisches Alter haben müsste, wenn sie noch leben würde, bewirken immer nur eines: Meine Mutter beginnt zu weinen. Ich kann meine Hilflosigkeit kaum ertragen, bin aber auch nicht bereit, Märchen zu erfinden, wie: „Vielleicht kommt deine Mutter ja morgen ...“
Aber was soll ich sagen?

Ich schweige, sie sieht mich fragend an. Ich gebe ihr ein Taschentuch. Sie fragt nach ihrem Bruder Hans, der 1944 im Krieg gefallen ist. Ich lenke ab.
Glücklicherweise bietet das Gesundheitsamt der Stadt Braunschweig 1997 eine Fortbildungsveranstaltung an mit dem Thema:
„Spezielle Probleme der Pflege in Krankenhäusern und Altenheimen“. Eine der Referentinnen ist Frau Andrea Brinker und sie spricht über: „Integrative Validation“. Was sich hinter diesen beiden Wörtern verbirgt, fasziniert und überzeugt mich, vor allem hilft es mir.

Ich probiere es aus, als ich meine Mutter wieder besuche. Es dauert tatsächlich nicht lange und sie fragt: „Warum kommt meine Mutter nicht?“ Ich sehe meine Mutter an, lege meine Hand auf ihre und sage: „Du vermisst deine Mutter sehr...“
Ich stelle nicht die Frage, ob sie ihre Mutter vermisst. Ich vermeide jede Betonung, stelle fest, was ich aus der Frage meiner Mutter nach ihrer Mutter herauszuhören meine und spreche es aus. Ihre Reaktion beweist die Richtigkeit meiner Wortwahl und Betonung. Meine Mutter streicht über meine Hand und sagt: „ Du bist lieb.“ Sie beginnt nicht zu weinen.

Ich kann vom Vortrag nur weitergeben, was mir verständlich war, bzw. ich gebe es so weiter, wie ich es verstanden habe:
Ein verwirrter älterer Mensch lebt häufig in seiner Vergangenheit. Wegen seiner Hirnleistungsstörungen kann sich nicht immer in unsere Realität rückorientieren, im Gegensatz zu uns. Dieser Unterschied macht es uns möglich, den Verwirrten dort zu begegnen, wo er sich befindet. Wenn wir lernen, seine Gefühle und Antriebe wahrzunehmen und wertzuschätzen, gewinnen wir Vertrauen. Das neue Wissen trägt dazu bei, dass ich mich in der Wohngruppe meiner Mutter wohler, weil sicherer im Umgang mit den alten Menschen, fühle. Natürlich auch mit meiner Mutter, die heute noch, zwei Jahre später, immer wieder ihre Mutter oder ihren Bruder sehen möchte. Diese Sicherheit hat mir eine größere Zuwendung zu allen Bewohner/innen möglich gemacht.

Häufig betrachten wir Fotografien von Blumen und Gegenstände aus alten Zeiten: Telefon, Nähmaschine, Schreibmaschine, auch Fotos von einer alten Feuerwehr, einer Apotheke, Feldbearbeitungsgeräte, Bienenstöcke und vieles mehr. Es entstehen immer ausführliche Gespräche, die uns allen Freude bereiten. Stets beobachte ich, dass das Singen der Volkslieder den alten Menschen besondere Freude macht. Durch die vertrauten Texte ergibt sich zusätzlich sehr unterschiedlicher Gesprächsstoff.